notifications
Nidwalden

Der Nidwaldner als erster ETH-Direktor war viel lieber Lehrer

Dienstag Sonntag würde Josef Wolfgang von Deschwanden 200 Jahre alt. Der Nidwaldner war Mitgründer und erster Direktor des Eidgenössischen Polytechnikums (heute ETH) Zürich. Seine Biografie gibt auch einen interessanten Einblick ins damalige Bildungswesen.
Josef Wolfgang von Deschwanden in einer Aufnahme vor 1866. (Bild: Archiv ETH-Bibliothek Zürich / Fotograf: Johannes Ganz(`)

Markus von Rotz

«Wir sind sehr um dich besorgt, richte deine Lernstunden so ein, dass du die meiste Zeit deiner nöthigsten Fächer widmen kannst (...), gönn dir jeden Tag 1 oder 2 Stunden im Freien.»

Das schrieb Mutter von Deschwanden im August 1840 ihrem in Zürich studierenden Sohn. 21 Jahre alt war er damals und auf dem Sprung, eine Lehrerstelle an der Oberen Industrieschule in Zürich zu erhalten.

Der Brief, zu finden in der von Peter Gyr aus Malters 1981 verfassten Biografie, ist typisch für des Nidwaldners Werdegang. Die Eltern begleiteten ihn eng, und er war immer hin- und hergerissen zwischen Forschung, Lehrtätigkeit und dem Anspruch Dritter, ihn in administrative Leitungsfunktionen zu hieven. Mit 28 Jahren schrieb er ins Tagebuch: «Es ist doch in meinem Berufe nichts, was meinem Geiste so angemessen wäre als stille Arbeiten und Unterricht.»

Schon als Schulbub zum Hilfslehrer geworden

Josef Wolfgang Alois von Deschwanden wurde am 21. Juli 1819 als älterster Sohn des Hauptmanns Victor Josef Louis von Deschwanden und der Carolina von Deschwanden in Stans geboren – obwohl beide gleichen Namens, waren die Eltern nicht verwandt, wie Gyr vermerkt. Die Familie war im Handel und Söldnerdienst tätig, ihre Söhne brachten viele technische Kenntnisse nach Hause. Vater Louis Victor arbeitete in Stans als Ingenieur und Geometer und nahm seinen Sohn oft mit und weckte so sein Interesse an Technik und Mathematik. Dieser fiel schon als Schulbub durch seine sehr klare Mitteilungsgabe auf, so dass sich sein erster Lehrer Josef Anton Joller «nicht selten beim Schulehalten seiner Hilfe bediente».

Das Gymnasium begann er 1834 in St. Gallen. Um sich auf diese Schule vorzubereiten, nahm er - gemeinsam mit Josef Theodor, dem jüngsten Bruder des Kunstmalers Paul Melchior von Deschwanden - Lateinstunden beim alten Klosterkaplan Franz Anton Odermatt. Dieser Maler, dessen Denkmal vor dem Regierungsgebäude in Stans steht, war ein Cousin seiner Mutter (siehe Link am Ende des Artikels). Josef Wolfgang war beliebt bei Mitschülern und gewann schnell das Vertrauen der Professoren, wie das Zitat eines Freundes zeigt:

«Eine nicht alltägliche psychologische Erscheinung war von Deschwanden in der Tat. Bei aller Herzlichkeit und Empfänglichkeit für
Gemütseindrücke (...) herrschte dennoch ein unwiderstehlicher Drang nach dem Studium der präzisen, trockenen mathematischen Fächer. (...) Keine Extravaganzen und keine Lücke finden wir in seinem Studiengange.»

Ihm gefiel das strenge, disziplinierte Internatsleben. Sein Professor gab ihm zusätzlich Privatstunden in Mathematik und Mechanik. 1837 wechselte er an die Obere Industrieschule in Zürich. Diese entsprach seinen mathematischen Neigungen mehr und hier erhielt er die Impulse für sein künftiges Berufsleben. Er durchwanderte sie als Schüler, Hilfslehrer, Professor, Rektor und Mitglied der Aufsichtskommission. Die Schule hatte die Aufgabe, «ihre Zöglinge mit denjenigen Fertigkeiten und wissenschaftlichen Kenntnissen auszurüsten, welche zur Verfolgung höherer industrieller Zwecke erforderlich sind».

Ausser in Englisch war der junge Nidwaldner in allen Fächern Bester, so bei praktischer Geometrie, Physik oder Differential- und Integralrechnung. Wegweisend für ihn wurde sein Hauptlehrer und spätere Freund Ferdinand Redtenbacher, der ihn in die Maschinenlehre einführte. Doch die Berufswahl fiel ihm schwer: Praktischer Ingenieur oder Mathematiklehrer?

«In jedem Fall ganz freien Willen lassen»

Er bat die Eltern um Rat. Die Mutter schrieb ihm: «Dein lieber Vater wird dir in jedem Falle ganz freien Willen lassen», obwohl sie ihm nicht verhehlen könne, dass er ihn lieber als Lehrer sähe. Er soll sich auch «noch keine grauen Haare wachsen» lassen, weil er noch keine Anstellung finde. Es sei in Luzern seit drei Monaten eine Professurstelle mit einem Jahresgehalt von 1200 Franken ausgeschrieben, aber es habe sich noch niemand dafür gefunden:

«Du siehst also, dass tüchtige Männer in diesem Fache noch nicht an jedem Dornbusch wachsen».

In der Überlegung, immer noch in die Praxis wechseln zu können, entschied sich von Deschwanden für den Lehrerberuf. Mit Nachhilfestunden für andere Studenten besserte er sein Taschengeld auf. Er sorgte sich, er könnte seiner Familie zu sehr zur Last fallen. Auf die Familienfinanzen angesprochen, beruhigte ihn seine Mutter: «Es ist wohl war dass selbe eben nicht glänzend sind, aber doch könnte es uns ja noch viel schlimmer gehen, denn wir sind ja alle recht gesund, dein lieber Vater hat Gott lob! immer viele Geschäfte, die ihm auch etwas eintragen.»

Trotz Liebäugelns mit einem Studium im Ausland schrieb er sich 1840 auch auf Drängen der Eltern an der Universität Zürich ein. Er konzentrierte sich stark auf Mathematik und Mechanik und hatte Gelegenheit, bei der Maschinenfabrik und Spinnerei Escher Wyss ungehindert die Maschinen zu studieren und nachzuzeichnen. Das wirkte befruchtend für seinen künftigen Lehrerberuf. 1841 erhielt er eine Stelle als Gehilfe des Professors für angewandte Mathematik und geometrisches Zeichnen, seines späteren Freundes und Förderers Ferdinand Redtenbacher – provisorisch bis Ende Jahr. Jahresgehalt 180 Franken. Die Arbeit machte ihm grosse Freude. Sein Engagement wurde verlängert. Redtenbacher über seine Arbeit:

«In dem Zeichnungsunterrichte, welchen ich von Zeit zu Zeit besuchte, fand ich bey den Schülern jederzeit ein ruhiges und anständiges Betragen; sie folgten mit Aufmerksamkeit den ihnen gegebenen Erläuterungen, die gut und klar gegeben wurden.»

1842 wurde sein Engagement erneut verlängert. Eine gleichzeitige Berufung an die Industrieschule in St. Gallen lehnte er ab, trotz «schmeichelhaftesten Ausdrücken» über ihn, wie er den Eltern schrieb. Er hoffte endlich auf eine Festanstellung in Zürich. Vergeblich, was ihn masslos enttäuschte. Nach einer weiteren Verlängerung des Provisoriums für neu 1500 Franken Gehalt wurde er im gleichen Jahr als einziger Bewerber für die nun ausgeschriebene Stelle zum Professor gewählt. Weil er Disziplin liebte und die Schüler vom «verderblichen Wirtshausbesuch» bewahren wollte, organisierte er Abendvorträge über Technologie, die Anklang fanden. Die Anerkennung für ihn war gross, doch hatte er nicht nur Freude am neuen Job: Er habe «gegenwärtig eine Menge administrativer Geschäfte in Namen des Lehrerconvents zu thun», so etwa «meist kleinliche Schreibereien und dergleichen» und er schrieb weiter: «Lebe denn auch fast wie ein Einsiedler, komme selbst mit meinen Kollegen nur selten, fast nur von Amtes wegen zusammen, gieng diesen Winter fast nie aus, ausser dem Spatziergange am Sonntag und dem Wege in die Schule.»

Als Escher Wyss 1848 die erste Wasserturbine baute, begann sich von Deschwanden intensiv mit Strömungslehre zu befassen. In den Ferien besuchte er technische Lehranstalten und Maschinenwerkstätten im nahen Ausland, um sich in Mechanik und Maschinenlehre weiterzubilden. Inzwischen war er bereits Rektor der Industrieschule. Er sah seine Aufgabe auch erzieherisch und überprüfte regelmässig das sittliche Betragen der Schüler, was ihm Ärger und den Ruf eines Pedanten eintrug, derweil ihm viele Eltern dafür dankbar waren. Wohl fühlte er sich als Rektor aber nicht. Er klagte in Briefen über «die drückende Last der Amtsgeschäfte». 1849 bot er seinen Rücktritt an, was ihm verwehrt wurde.

Bund wartete eine gute Staatsrechnung ab

1848 hatte ein neues Kapitel in der Bildungslandschaft Schweiz begonnen, an welchem von Deschwanden massgeblich mitschrieb: Ein Vorstoss im Nationalrat forderte damals die Gründung einer eidgenössischen Universität, die ihren Sitz nicht in Bern haben sollte. Der Bundesrat setzte dazu eine Expertenkommission ein, liess sich aber Zeit mit dem Anliegen. Mit der guten Staatsrechnung 1852 gab es wieder Auftrieb. Von Deschwanden wurde spät auch in diese Kommission berufen und leistete einen wesentlichen Anteil an deren Arbeit. 1854 wurde der Schulrat ernannt, von Deschwanden wurde rechte Hand des Präsidenten.

1847 bis 1855 war von Deschwanden Vorsteher der Oberen Industrieschule Zürich. Dann wurde er erst Professor der mathematischen Wissenschaften – auf Lebenszeit für 3200 Franken Lohn. «Nun kann froh u. frisch das Wirken und Schaffen unter einer Fülle jugendlicher Kräfte beginnen. (...) Des Unterrichtes schönster Lohn ist doch die Wahrnehmung des Genusses, den man durch denselben jugendlichen, aufstrebenden Geistern gewährt.» Im gleichen Jahr wurde er erster Direktor des neu eingerichteten Polytechnikums. 189 Professoren meldeten sich, vor allem ausländische. Dies lag laut Biograf Gyr «eher in den misslichen politischen Verhältnissen der Nachbarstaaten als in einem materiellen Anreiz», lag der Maximallohn doch bei 3000 bis 4000 Franken. Der Bund wollte seine Finanzen schonen.

Die Eröffnung im Oktober verlief nicht nach von Deschwandens Gusto. Er kritisierte, die öffentliche Anstalt «scheint die Eltern, deren Söhne an derselben gebildet werden sollen, an keinem Theile des Festes Theil nehmen lassen zu wollen» – kein Wunder, habe man abends «den grössten Theil der Schüler in besoffenem Zustande» gefunden – «wahrlich ein niederschlagender, ärgerlicher Anfang». Bald gab es Beschwerden über das zu klein werdende Gebäude. Ein Programm für einen Neubau mit 500 Plätzen wurde von der Zürcher Regierung wegen Kosten von «über einer Million Franken» immer wieder hinausgezögert. 1864 konnte aber der Neubau bezogen werden.

Von Deschwanden verleidete seine Aufgabe zusehends, auch aus gesundheitlichen Gründen: «Immer quält mich wieder der Mangel an Befriedigung in meiner Stellung; immer wünschte ich diesen Zustand nur als einen vorübergehenden ansehen zu können.» Er dachte öfters an Rücktritt, wurde aber 1857 gegen seinen Willen wiedergewählt. Zwei Jahre später reichte er seine Demission ein.

Vier Jahre zuvor hatte er seine spätere Frau Ottilia Grossbach kennen gelernt. Als er, damals in der Innerschweiz unüblich, Verlobungskarten verschickte, neckte ihn sein Schwager: «Wir hielten Dich beinahe schon zu solchen Dingen unfähig.» Zwischen September 1857, als er um ihre Hand anhielt, und der Hochzeit im April 1858 sind über 60 Liebesbriefe erhalten, «zum grössten Teil äusserst poetisch und lyrisch verfasst», wie Peter Gyr schreibt. Ein Beispiel:

«Dass mir die Liebe, wenn sie einmal in mein Herz einziehen sollte, so unendlich Vieles (...) gewähren würde, das kannte ich nicht, daran konnte ich nicht einmal denken. Aber dazu musste ich freilich ein so treues, hingebendes Herz, wie das deinige, finden.»

Von Deschwanden wandte sich vermehrt dem Malen zu. Gesundheitlich gings bergab, er litt an Lungentuberkulose – ein verbreitetes Übel in seiner Familie. Er machte diverse Kuren. 1865 wurde er Vater einer Tochter. Im April 1866 starb er 47-jährig – der Mitbegründer und Gestalter einer Bundeshochschule, die in den Schülern neben den Technikern auch die Menschen sehen sollte. Noch heute erinnert ein Platz mit seinem Namen in Zürich an ihn. Ein ehemaliger Schüler beschrieb ihn so:

«Niemals verlor er seine gleichmässige Ruhe und auch dann, wenn ihn schwere körperliche Leiden drückten, kam nie ein verletzendes Wort über seine Lippen.»

Das PDF der Biografie von Peter Gyr finden Sie unter diesem Link

Kommentare (0)