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Uri

Altdorfer Manufaktur Agrifuturo erfindet die Kaffeeproduktion neu: «Kaffeerösterei ist keine Kunst, es ist ein solides Handwerk»

Claudio Marty und Yesenia Rosero importieren Kaffee als erste Urner Kaffeeröster direkt aus Kolumbien. Die Bohnen stammen von der eigenen Plantage.
Claudio Marty von Agrifuturo röstet direkt importierten Kaffee aus Kolumbien in Altdorf. (Bild: Christian Tschümperlin / Urner Zeitung)
Impressionen von der Kaffeeplantage in der Sierra Nevada. (Bild: PD)
Claudio Marty und Yesenia Rosero beim Kaffeetrinken. (Bild: Christian Tschümperlin)
Yesenia Rosero in der Sierra Nevada. (Bild: PD)

Christian Tschümperlin

Christian Tschümperlin

Christian Tschümperlin

Christian Tschümperlin

Es riecht fast wie frisch geschnittenes Gras: Der Geruch stammt von 15 Kilogramm «grünen Kaffeebohnen», die in einen silbernen Trichter fallen. Der Röstprozess kann beginnen. Claudio Marty und seine kolumbianische Frau Yesenia Rosero haben sich der Produktion von fairem Spezialitätenkaffee verschrieben. Das Besondere: «Es ist das erste Mal, dass eine Rösterei in Uri direkt importiert», sagt er.

Generell gebe es nur eine Handvoll Unternehmen in der Schweiz, welche die obligatorische Generaleinfuhrbewilligung beantragt haben und als Importeur registriert sind. Den beiden geht es um Wertschöpfungsketten ohne Zwischenhandel. Eine klare Vision. Und ein Ehepaar, die diese hartnäckig verfolgt. Deshalb haben die beiden ihre zukunftsweisende Altdorfer Kaffeemanufaktur Agrifuturo genannt.

Auf einem Bildschirm beobachtet Marty die Temperaturkurve der Bohnen, immer wieder macht er sich Notizen. 150 Grad, steht da etwa. «Die Anzeigen geben nur einen Teil der Wahrheit preis. Man muss ein Gespür entwickeln», kommentiert er. Die grösste Herausforderung sei es, dass der Kaffee am Ende des Prozesses immer gleich schmecke. Das erfordere viel Erfahrung. «Kaffeerösterei ist keine Kunst, es ist ein solides Handwerk.»

Es sind keine fünf Minuten um, als man ein Knacken aus dem Behälter vernimmt, in dem sich die Wärmetrommel befindet – es handelt sich um den sogenannten «Popcorn-Effekt». «Die Bohnen poppen auf, und der Kaffee breitet seinen Geschmack aus.» Damit ist die Röstphase beendet. Mit einem Handstrich öffnet Marty die Trommel, die Bohnen fallen weiter nach unten in einen Mischer. Während dieser zweiten Stufe kühlen die Bohnen ab und werden anschliessend in Phase drei entsteint. «Es kann vorkommen, dass auf Plantagen Kieselsteine oder andere Fremdkörper mit eingepackt werden. Gelangen solche in die Mühle, wird es sehr schnell ärgerlich und teuer», weiss er.

Grosshandel mischt bis zu 120 Bohnensorten zusammen

Die 15 Kilogramm Bohnen, die Marty in 15 Minuten durch den Röster laufen lässt, entsprechen zwei Tagen Arbeit auf den Plantagen. Ob man den Kaffee nun trinken könne, nachdem er geröstet ist? «Ihn sofort zu trinken, wäre heftig, er hat noch viel CO2 gespeichert», sagt Marty und offeriert stattdessen eine zweite Sorte Kaffee von der Plantage in Kolumbien: Sierra Nevada heisst sie. Wie die Gegend, aus der die Bohne stammt.

Marty nimmt einen Schluck: Der Kaffee ist stark, er wirkt authentisch. Im Unterschied zum Kaffee im Grosshandel – wo teils bis zu 120 Sorten zu einem Kaffee zusammengemischt werden, kombiniert Agrifuturo jeweils maximal 2 bis 3 Bohnensorten. Gerne lasse man aber auch eine Sorte für sich allein sprechen. «Das leichte Prickeln kommt daher, dass der Röstprozess noch nicht lange genug zurückliegt.» Normalerweise lagere man den Kaffee einige Tage, bevor er in den Verkauf kommt. «Den besten Zustand erreichen die Bohnen nach rund zwei Wochen.»

Dass der Kaffee überhaupt von Kolumbien nach Altdorf gelangen konnte, ist keine Selbstverständlichkeit: Die Reise glich einem kleinen Abenteuer. Mit Maultieren mussten die schweren Jutesäcke erst durch den Dschungel 50 Kilometer weit zur lebensfrohen Karibikstadt Santa Marta an der kolumbianischen Küste transportiert werden, wo der Kaffee verschifft werden sollte. «Der Hafen von Santa Marta wurde aber wegen der Pandemie geschlossen, weshalb wir auf den Hafen von Cartagena im Norden ausweichen mussten», berichtet Marty.

Zwischen Cartagena und Altdorf liegt eine Luftlinie von über 8700 Kilometern, wobei die Ladung via Hamburg in die Schweiz kam. Eingetroffen sind die Kaffeebohnen vor drei Wochen, coronabedingt mit drei Monaten Verspätung. Nun liegen sie aber endlich fein säuberlich aufeinander in der Altdorfer Kaffeerösterei zwischen Q4 und Zwyer Haus: 50 Jutesäcke Kaffeebohnen à 70 Kilogramm.

Der Altdorfer ist hauptberuflicher Innovations-Coach. Eine Standortalternative zu Uri sei für ihn nie in Frage gekommen. «Eine Idee wird aber erst zur Innovation, wenn sie erfolgreich umgesetzt ist.» Und das Projekt Agrifuturo wäre ohne Martys Frau Yesenia Rosero wohl eine theoretische Idee geblieben.

Zum ersten Mal zu Gast bei der überwucherten Farm im Nebel

Yesenia Rosero ist in Barranquilla, der viertgrössten Stadt Kolumbiens, aufgewachsen. Schon als Kind suchte sie den Kontakt zur Natur: «Ich war häufig auf Entdeckungstour im Dschungel. Die Gegend in der Sierra Nevada hat mir gefallen, sie ist nicht luxuriös», sagt sie bei einem ungezwungenen Kaffee in der Altdorfer Rösterei. Nachdem sie Claudio Marty in Uri kennengelernt hatte, nahm sie ihn kurzerhand mit auf ihre Entdeckungstouren in den kolumbianischen Urwald.

Oktober 2017. Seit drei Stunden sind Claudio Marty und Yesenia Rosero unterwegs im nebligen Dschungel am Fusse der Bergketten der Sierra Nevada, wo auch die beiden höchsten Berge des Landes stehen. Die Mücken haben schon einige male zugestochen, als vor ihnen eine Kaffeeplantage sichtbar wird. Sie gehörte dem damals 82-jährigen Don Orlando Florez und war bereits derart überwuchert, dass Claudio Marty sie im ersten Moment fast übersah. Noch heute erinnert er sich an die ersten Worte des Familienpatriarchen: «Ich bin so klein und Sie sind so gross, wie können wir Geschäfte machen?», habe dieser mit viel Schalk gemeint. Hier werde es ihnen ein Leben lang nicht langweilig, es gebe einiges zu tun. «Aber es ist definitiv die schönste Farm weit und breit», so Orlando Florez. Schon damals hatte Yesenia Rosero eine Idee davon, was aus der Farm werden könnte. Denn keines von Florez' 13 Kindern wollte den aufwendigen Betrieb fortführen.

Ein Leben ohne Internet, fliessend Wasser oder Strom

Claudio Marty taucht in ein karges Leben ohne Internet ein: Gekocht wird am Holzfeuer, man wäscht sich im Brunnen. Don Orlando Florez konnte nächtelang erzählen. «Ich schlief ein, als er bei der Geschichte mit dem Panther war, und wachte wieder auf, als er bei der Geschichte mit der Schlange war», erinnert sich Yesenia Rosero mit einem Schmunzeln.

Die Einnahmen der kolumbianischen Kaffeebauern waren seit Jahren rückläufig, trotz des weltweit steigenden Kaffeekonsums. «Am Zwischenhandel verdienen zu viele mit, und die Spekulation an der Börse verschärft das Problem», erklärt sich Marty die Sache. Und als er da am Fluss inmitten des Dschungels sass, habe er plötzlich das Potenzial dieses Bauernhofes begriffen: «Das Wasser konnte um hundert Ecken hinabfliessen, oder es konnte den direkten Weg nehmen. Was, wenn wir direkt importieren?»

Für «Bio» fehlt nur noch das Zertifikat

Heute produziert die Farm im Dschungel Sierra Nevadas wieder auf Hochtouren, diesmal für den Schweizer Markt: «Wir haben sie von Don Orlando Florez abgekauft, auf Vordermann gebracht und sind dabei, auf Bio umzustellen. Obwohl, eigentlich war alles schon immer Bio, wir brauchen nur noch das Zertifikat», sagt Marty und lacht. Die vier Festangestellten der Plantage verdienten heute im Schnitt doppelt so viel wie zuvor, und dennoch kann Agrifuturo mit den Preisen anderer Röstereien sehr gut mithalten – dank des neuen Konzeptes. Und Don Orlando Florez? «Er ist nach wie vor wohlauf», versichert Yesenia Rosero. Wenn sie nicht selber vor Ort sei, schaue ihre Schwester zum Rechten.

Zwei der vier Kaffeesorten von Agrifuturo stammen von der eigenen Farm in Kolumbien. Diese gibt es seit August in ihrer Rösterei zu kaufen. In Zukunft möchte Marty noch mehr erreichen:

«Mein Wunsch ist es,
dass wir zum wichtigsten Produzenten von kolumbianischem Kaffee
in der Schweiz aufsteigen.
Dem wichtigsten, nicht nur dem grössten. Wichtig sind nämlich jene,
welche für alle Beteiligten
am meisten Mehrwert schaffen.»




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