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Die rosarote Brille

Autor Stefan Fryberg fragt sich, wie wir die Corona-Pandemie in einigen Jahren beurteilen werden.

Stefan Fryberg

Die Fallzahlen sinken, die Regeln werden lockerer und das Leben leichter. Gross ist die Hoffnung, dass sich das Coronavirus dank der Impfung und anderer Massnahmen bald geschlagen gibt und nicht nur eine Pause einlegt. Nur: Worüber werden wir uns unterhalten, ereifern und ärgern, wenn wieder der Alltag ohne Maskenpflicht und Einschränkungen einkehrt? Um Gottes willen, droht uns der Gesprächsstoff auszugehen? Werden die Stammtische verstummen? Und die «Tagesschau» statt 15 noch mickrige 5 Minuten dauern? Keine Bange, das Wetter wird auch in Zukunft für Diskussionen sorgen. Ebenso das Abschneiden der Schweiz bei der Fussball-EM oder wer nächster Schwingerkönig wird. Nicht zu reden von der Heirat (oder noch besser) der Scheidung eines blaublütigen Paars.

Sicher ist zudem, dass die Medien bald wieder vermehrt über Kriege, Klimawandel und Armut berichten werden. Auch die Meldungen über «Unglücksfälle und Verbrechen» werden zunehmen. Mit der Konsequenz, dass viele in ihrer Meinung bestärkt werden, dass früher alles besser gewesen sei. Keine Frage, heute liegt einiges im Argen. Viele Menschen leben unverschuldet in grösster Armut, hungern und sterben mangels medizinischer Betreuung viel zu früh. In Syrien tobt ein blutiger Bürgerkrieg. Die Meere sind verschmutzt, und das Polareis schmilzt. Auch wird nach wie vor gestohlen, werden Leute übers Ohr gehauen und Verbrechen begangen, dass es dem Teufel graust. Und dennoch, ob Sie’s glauben wollen oder nicht: Wir leben in einer Welt, in der es um einiges besser bestellt ist als noch vor wenigen Jahrzehnten. Und zwar nicht nur in Europa oder in Nordamerika.

So hat sich, um nur wenige Beispiele zu nennen, der Anteil der Menschen, die in extremer Armut leben, im Laufe der letzten 25 Jahre nahezu halbiert. Die Kindersterblichkeit sinkt kontinuierlich und liegt zurzeit weltweit bei unter 4 Prozent. Gleichzeitig steigt die Alphabetisierung, sodass heute fast 90 Prozent aller Erwachsenen lesen und schreiben können. Und selbst die Kriminalität geht, zumindest in der Schweiz, übrigens auf sehr tiefem Niveau, alljährlich zurück.

Doch warum glauben wir dennoch, dass alles schlimmer wird? Der schwedische Wissenschafter Hans Rosling nennt in seinem kurz nach seinem Tod 2018 auf Deutsch erschienenen Bestseller «Factfulness» mehrere Gründe. Zwei seien verraten: Zum einen würden uns die Medien tagtäglich vorwiegend mit Berichten über unschöne Ereignisse bombardieren. Und zum anderen neige der Mensch dazu, die Vergangenheit durch eine rosarote Brille zu sehen. Tatsächlich: Mag die Jugend noch so hart gewesen sein, oft wird sie später als glücklich empfunden. Selbst den Militärdienst mit der ewigen sinnlosen Warterei verklären nicht wenige im Nachhinein als kameradschaftliches Klassentreffen. Und an Weihnachten lag früher natürlich immer meterhoher Schnee.

Mögen Sie sich heute noch so häufig über das miese Coronavirus mit all seinen Konsequenzen ärgern, Ihnen bleibt der Trost, dass Sie in wenigen Jahren Ihren Kindern und Enkelkindern erzählen werden, wie doch alles halb so schlimm war und das Ganze in gewissen Belangen sogar seine guten Seiten hatte. Ja, was doch so eine Brille, die rosarote, alles vermag.

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