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Uri

«Ürner Asichtä»: Eine verhältnismässige Wurst

Die Erstfelder SP-Gemeinderätin und Kolumnistin Rebekka Wyler über die bevorstehende Abstimmung zum Wahlsystem im Kanton Uri vom 19. Mai 2019.
Rebekka Wyler. (Bild: PD)  

Im November gedachte die Schweiz des Landesstreiks von 1918. Kurz vor dem Ende des Ersten Weltkrieges hatte sich die soziale Situation zugespitzt. Viele ärmere Menschen litten Hunger, und es gab noch keinen Erwerbsersatz für die Soldaten an der Grenze. Mitte November vor hundert Jahren legten deshalb eine Viertelmillion Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schweizweit die Arbeit nieder. Nach drei Tagen wurde der Streik abgebrochen, weil ein Militäreinsatz drohte. Dennoch wurden in den Jahren nach dem Krieg einige Forderungen der Streikenden erfüllt. So wurde beispielsweise 1920 die 48-Stunden-Woche eingeführt. Andere Forderungen – zum Beispiel nach Einführung der AHV oder des Frauenstimmrechts – brauchten etwas länger.

Eine Forderung wurde bereits im Herbst 1919 umgesetzt, und zwar diejenige nach der «sofortigen Neuwahl des Nationalrates nach dem Proporzsystem». Bereits im Oktober 1918 hatten die Stimmbürger dem Übergang zum Verhältniswahlrecht zugestimmt. Der Landesstreik hatte dem Anliegen zusätzliche Dringlichkeit verschafft. Die Forderung hatte zwar auf den ersten Blick wenig mit der Lebensmittelversorgung und der Lage der Arbeiter zu tun, stand aber nicht umsonst an erster Stelle: Das Majorzsystem garantierte dem staatstragenden Freisinn die absolute Mehrheit in Bundesbern. Das hatte wenig mit der Verteilung der politischen Ansichten in der Bevölkerung zu tun, und viel mit Machterhalt. Die Katholisch-Konservativen hatten ebenso wie die Sozialdemokraten auf politischer Ebene kaum etwas zu sagen. Bereits mehrfach waren deshalb Anläufe unternommen worden, den Proporz einzuführen. Für die Abstimmung von 1910 hatte das Pro-Komitee ein eindrückliches Plakat entworfen: Unter dem Titel „Majorz“ verschlingt ein Mann in Frack und Zylinder allein eine grosse Wurst, die Vertreter des Volkes unten am Tisch schauen zu. Beim Proporz hingegen verteilt Mutter Helvetia die Wurst an die Männer aus dem Volk. Ausser der Landesmutter sassen damals noch keine Frauen am Tisch, doch immerhin kriegten nun alle Schichten ein Stück von der Wurst.

1917 hatte die FDP nicht einmal mehr 40 Prozent der Stimmen erhalten, dennoch besetzte sie dank des Majorzsystems die Mehrheit der Sitze im Nationalrat. Nicht überraschend führte die Einführung des Verhältniswahlrechts 1919 zu einschneidenden Veränderungen. Die Sozialdemokraten konnten ihre Sitzzahl fast verdoppeln, während die Freisinnigen ihre absolute Mehrheit verloren. Auch die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (heute SVP) gewann zahlreiche Mandate. Obwohl der Freisinn als Ganzes das neue Wahlsystem ablehnte, hatten bereits früher einzelne liberale Exponenten die Einführung des Proporzes unterstützt. Der Majorz sei «konservativ bis auf die Knochen», meinte der freisinnige Baselbieter Nationalrat Gustav Seiler bei der Beratung der Vorlage im Parlament.

Das Proporzwahlrecht wurde seither weiter verfeinert, um das Verhältnis der abgegebenen Stimmen möglichst genau in Sitze für die einzelnen Parteien und Gruppierungen umzumünzen. Ziel ist, dass möglichst wenig Stimmen im Papierkorb landen. Diese Forderung ist auch heute noch aktuell. Zwar haben sich in diesen Tagen im Kanton Uri CVP und FDP zusammengetan, um das Majorzsystem auszuweiten. Doch auch heute verlangen alle Parteien und Bevölkerungsteile ihr faires Stück von der Wurst: «Heil dir Helvetia, Bratwurscht und Servela, cha me bim Metzger ha, wohlfeil und gut.» Beim Metzger – oder an der Urne.

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