Rahel Hug
Bis in den 17. Stock fährt ein Baustellenlift, danach geht’s zu Fuss über das Gerüst weiter. Hier oben zieht einem die kühle Aprilluft um die Ohren, der Blick in die Tiefe ist nur für Schwindelfreie geeignet. Angekommen im 22. Geschoss, wird es grün – ein Anblick, den man in dieser luftigen Höhe nicht unbedingt erwartet. Die Arbeiten auf dem Dach des ersten Gartenhochhauses der Schweiz, 70 Meter über dem Boden, laufen auf Hochtouren. Pflanzentröge werden mit Abdichtungen versehen und Verstrebungen montiert. Zwei Landschaftsarchitektinnen kontrollieren die bisher gepflanzten Bäume. Eine Kranladung Substrat kommt angeflogen, die Gartenbauer füllen sie in die vorbereiteten Becken.
Mittendrin steht Roger Ingold. Er und sein Team sind in diesen Tagen unter Dauerstress. Sie sind dafür verantwortlich, dass mehrere tausend Pflanzen ihren Platz in diesem aussergewöhnlichen Garten erhalten. Im Auftrag der Bauherrin, der Zuger Immobilienunternehmung Zug Estates, ist Ingold für die Begrünung des Hochhauses Aglaya in der Suurstoffi in Rotkreuz zuständig – von der Konzeption bis zur Pflege der Pflanzen liegt alles in seinen Händen. Das Gerüst wird innerhalb der nächsten drei Monate gestaffelt wegkommen, bis dahin wollen die Gärtner ihre Hauptarbeiten abschliessen.
Sicherheit ist das oberste Gebot
Der erfahrene Gartenbauer aus Oberwil-Lieli im Kanton Aargau hat schon viele Grossprojekte realisiert, doch dieses stellt eine besondere Herausforderung dar. Denn nicht nur auf dem Dach wird viel Grün gepflanzt, auch auf den Balkonen aller Etagen. «Für alle Beteiligten ist es Neuland», sagt der Obergärtner und zählt gleich die erste Herausforderung auf: das Wetter, sprich Wind, Sturm und Hagel. All dies müssen die Pflanzen aushalten können. Die grossen Bäume beispielsweise werden doppelt gesichert, unterirdisch mit einer Wurzelverankerung, oberirdisch mit Drahtseilen. Ingold betont:
«Wir gehen kein Risiko ein.»
Auch was die Logistik betrifft, ist die Begrünung von Aglaya eine Mammutaufgabe. Der Gartenbauer nennt eindrückliche Zahlen: 142 Solitärbäume, 839 Sträucher, 1352 Kletterpflanzen und 13500 Stauden, dazu mehrere tausend Blumenzwiebeln, werden gepflanzt. Die grosse Mehrheit seien einheimische Pflanzen, erzählt Ingold. In einer Baumschule in Bern wurden sie anderthalb Jahre lang vorkultiviert – im gleichen Substrat, in dem sie auch hier ihre Wurzeln schlagen.
Es besteht aus Mineralien, nicht aus Erde. «Das nicht-organische Material kann viel mehr Wasser speichern», weiss der Fachmann. 1400 Kubikmeter Substrat werden gesamthaft benötigt. Ein Grossteil der schweren Säcke muss mit dem Lift hochgebracht und von Hand ausgeladen werden. «Ein Transport per Kran in die einzelnen Stockwerke ist nicht möglich, da das Gerüst im Weg ist.» Bewässert werden die Pflanzen übrigens durch ein ausgeklügeltes System, welches das Regenwasser im Untergeschoss speichert und bei Bedarf in die jeweiligen Tröge leitet.
Zurück am Boden: Auf dem Baustellenplatz stehen die Hainbuchen und Ahornbäume bereit zum Transport in die Höhe. An den noch feinen Ästen befinden sich blaue Etiketten. «Sie zeigen an, wie der jeweilige Baum ausgerichtet sein muss», führt Roger Ingold aus. Dabei wird nichts dem Zufall überlassen: Schon im Vorhinein steht fest, ob der Baum auf der Sonnen- oder Schattenseite des Gebäudes platziert wird. Die Bepflanzung folgt einem Farbkonzept, das auf Himmelsrichtung und Jahreszeit abgestimmt ist: «Mit der Zeit wird jede Gebäudeseite etwas anders daherkommen.» Von grün zu eher gelblich bis hin zu verschiedenen Rot-Tönen.
Erzählt Roger Ingold von seiner Arbeit, gerät er ins Schwärmen. Er glaubt, dass begrünte Fassaden in Zukunft Schule machen werden. In heissen Sommern beispielsweise komme die kühlende und Schatten spendende Wirkung der Pflanzen zum Zug. Ausserdem bieten sie ein Zuhause für Vögel und Insekten und fördern somit die Biodiversität. «Solche Projekte sind sehr nachhaltig. Wenn ich an internationalen Kongressen teilnehme, werde ich oft darauf angesprochen. Grüne Hochhäuser sind zurzeit das Thema Nummer eins.»
Gärtner, die am Seil arbeiten
Das bekannteste Vorbild für Aglaya steht in Mailand: Die begrünten Zwillingstürme Bosco Verticale («Senkrechter Wald») wurden 2014 fertiggestellt und sind 110 respektive 80 Meter hoch. Das Youtube-Video «The Flying Gardeners» führt vor Augen, wie die Pflanzenpflege auf dem Wohnturm funktioniert. Gesichert mit einem Seil, hangeln sich die Gärtner von Balkon zu Balkon und schneiden die Sträucher und Bäume:
In Rotkreuz wird das ähnlich ablaufen, wie der Aargauer Chefgärtner erzählt. «Nur ein kleiner Teil des Unterhalts wird über die Wohnungen erfolgen.» Der Gartenbauer geht davon aus, dass viermal im Jahr ein Pflegedurchgang à zwei Wochen nötig sein wird. Und was tun die Fachleute, damit keine unschönen Flecken und Moos an der Fassade entstehen? Auch das ist genau durchdacht: «Es ist wichtig, dass die Pflanzen gut hinterlüftet sind, sodass keine Feuchtigkeit entsteht», sagt Ingold. Die Pflanzen berühren also die Gebäudehülle gar nicht, die Kletterpflanzen beispielsweise sind an eigens dafür montierten Stangen befestigt.
90 Prozent der Wohnungen sind verkauft
Laut Philipp Hodel, bei Zug Estates zuständig für die Kommunikation, sind bereits 90 Prozent der insgesamt 85 Wohnungen im Gartenhochhaus reserviert oder verkauft. Im Erdgeschoss von Aglaya wird das italienische Restaurant Sapori’s eröffnen. Die zur Verfügung stehenden Gewerbeflächen vom 1. bis zum 3. Obergeschoss hat das Coworking-Unternehmen Spaces gemietet. Zug Estates investiert laut eigenen Angaben 100 Millionen Franken in das Projekt. Der gestaffelte Bezug erfolgt voraussichtlich ab November. Bis dann werden die meisten Bäume und Sträucher wohl in Rot-, Orange- und Gelbtönen leuchten.
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