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Zuger Obergericht spricht Machtwort: 27-Jähriger muss die Schweiz nicht verlassen

Weil er einem anderen das Portemonnaie geraubt hat, will das Zuger Strafgericht einen schwerkranken Türken ihn die Heimat schicken. Dann interveniert das Obergericht. Es geht um 200 Franken.

Können Worte wehtun?

Sätze, die einem die eigenen Schwächen vor Augen führen und wie Hammerschläge auf einen niedergehen? Auch wenn sie im sperrigen Juristensprech fallen? Aussagen, wie sie das Strafgericht Zug einem 27-jährigen Türken in einem Urteil entgegenschmettert?

«Der Aufenthaltszweck des Beschuldigten beschränkte sich hauptsächlich auf den Konsum von Suchtmitteln und den Bezug von Geldern von Sozialversicherungsinstitutionen.»

«In beruflicher Hinsicht vermochte sich der Beschuldigte in der Schweiz nicht, zu etablieren, hat er doch weder eine Ausbildung abgeschlossen noch sonst einen Beruf erlernt (…).»

«Während seiner Inhaftierung (…) erhielt er denn auch keinen Besuch von Personen ausserhalb seiner Familie.»

Was ging im jungen Mann vor, als er erfuhr, dass ihn das Zuger Strafgericht zu acht Monaten Gefängnis verurteilt?

Man weiss es nicht. Dafür ist seit dem 2. Dezember, und einem Berufungsurteil des Zuger Obergerichts klar: Die Worte haben heute kein Gewicht mehr.

Gericht hebt Landesverweis auf

Das Obergericht Zug gibt der Berufung des 27-Jährigen teilweise statt, korrigiert die Freiheitsstrafe von acht auf sechs Monate und verzichtet darauf, vier bedingt ausgesprochene Geldstrafen zu widerrufen. Vor allem aber: Es hebt einen sechsjährigen Landesverweis auf, den das Strafgericht im Urteil vom 6. Mai 2020 ausgesprochen hatte. Wegen 200 Franken.

Der ZVB-Bus Nummer 42 steht am 8. Oktober 2019 beim Bahnhof Cham bereit zur Abfahrt. Es ist kurz vor Mittag, als der junge Türke den Bus betritt, sich neben einen Passagier setzt und ihn fragt, ob er etwas zu rauchen habe. Dieser bietet dem Türken seine Zigaretten zum Kauf an, der junge Mann nimmt an. Als der andere das Retourgeld aus seinem Portemonnaie klauben will, packt der 27-Jährige den Geldsack, reisst daran, zischt, er habe ein Messer dabei. Der Passagier bekommt Angst, lässt los, der Täter stürmt aus dem Bus.

Kurz darauf findet man das leere Portemonnaie, später bekommt der Fahrgast auch seine 200 Franken zurück. Trotzdem: Mit seiner Aktion soll der junge Mann, der seit seinem elften Lebensjahr in der Schweiz ist und noch bei seinen Eltern wohnt, einen Raub begangen haben – und damit eines der Delikte, für die das Strafgesetzbuch bei Ausländern einen Landesverweis bis zu 15 Jahren vorsieht. Sofern kein persönlicher Härtefall vorliegt, das Interesse der Schweiz an einer Ausschaffung kleiner ist als das des Beschuldigten, hier zu bleiben.

Doch bevor sich das Gericht mit der Härtefall-Frage auseinandersetzen konnte, musste es jene der Schuldfähigkeit klären. Denn nicht weniger umstritten war, ob der Beschuldigte zum Tatzeitpunkt in der Lage war, das Unrecht, das er anrichtete einzusehen und es aufgrund dieser Erkenntnis zu unterlassen.

Gutachter korrigierte Einschätzung

Der Beschuldigte leidet an einer wiederkehrenden, paranoiden Schizophrenie, einer Krankheit gekennzeichnet von meist akustischen Halluzinationen und Wahnvorstellungen sowie an einer Kokainabhängigkeit.

Das Strafgericht war in erster Instanz noch davon ausgegangen, dass der junge Mann «zur Tatzeit schuldfähig» war und verliess sich bei dieser Einschätzung auf ein psychiatrisches Gutachten, das dem Beschuldigten erst noch eine mittlere Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit attestiert hatte.

Erst während der Verhandlung am Strafgericht, und nachdem man dem Gutachter gesagt hatte, der Türke sei zum Tatzeitpunkt unter Kokaineinfluss gewesen, korrigierte er seine Einschätzung zu einer «schwerwiegenden Einschränkung». Das würdigt nun das Obergericht, indem es die Freiheitsstrafe von acht auf sechs Monate senkt.

Zufriedener Verteidiger

Auf Anfrage sagt Verteidiger Manuel Inderbitzin zum Berufungsurteil: «Ich bin zufrieden, dass das Obergericht das Strafmass reduziert.» Ebenso froh ist der Anwalt, dass das Obergericht den Landesverweis gegen seinen Mandanten aufgehoben hat.

Das Strafgericht hatte noch keinen persönlichen Härtefall gesehen, etwa weil der Türke in der Schweiz nie heimisch geworden sei. Die Integration sei «unterdurchschnittlich», ja «nachgerade schlecht» gelaufen. Zudem habe er in der Türkei weiterhin Familie. Auch in der Heimat könne er sich wegen seiner Krankheit behandeln lassen.

Anwalt: «Das widerspricht dem gesunden Menschenverstand»

Anderer Meinung war Inderbitzin, der an der Berufungsverhandlung noch erklärte, der Beschuldigte würde in eine abgelegene Wüstenregion der Türkei ziehen, wo prekäre Verhältnisse warteten und eine medizinisch-psychiatrische Infrastruktur schlicht nicht existiere. Sein Onkel in der Türkei habe angekündigt, den Beschuldigten bei einem seiner Anfälle am Kuhstall festzubinden. Und schlussendlich widerspreche es «schlichtweg dem gesunden Menschenverstand», eine Person, die den Grossteil ihres Lebens hier verbracht habe, wegen 200 Franken für sechs Jahre des Landes zu verweisen.

Am Ende war für das Obergericht die medizinische Lage entscheidend. Laut dem Urteil ist der 27-Jährige auf «spezial-medizinische Hilfe» angewiesen. Es sei nicht erwiesen, dass er diese in der Türkei auch bekommt, weshalb ein persönlicher Härtefall vorliege.

Versöhnlicher Verteidiger

Das 45-seitige Urteil des Obergerichts zitiert Verteidiger Inderbitzin mehrfach, der nebst dem Landesverweis auch die 118-tägige Untersuchungshaft kritisierte, die für seinen Mandanten wegen dessen Krankheit sehr schwer zu ertragen gewesen seien. Auch das Obergericht rüffelte die Vorinstanz und hält fest, das Strafgericht habe den Widerruf von vier bedingten Geldstrafen «lapidar» begründet.

Im Nachgang zum Verdikt des Obergerichts sagt Inderbitzin zum Urteil des Strafgerichts, dieses sei umfassend und gut begründet gewesen, die Härte sei dem Gesetz geschuldet und dem Umstand, dass die «Rechtsprechung zur Landesverweisung bei eingeschränkter Urteilsfähigkeit nicht gefestigt», sei. Inderbitzin hält sich also mit Kritik zurück. Und wählt versöhnliche Worte.

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