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«Wirtshausschwingete» und gröbere Keilereien –die Sumpfzeit des Schwingens

Eine umfangreiche Recherche des Journalisten Linus Schöpfer zeigt erstaunliche Erkenntnisse auf. Sein Buch heisst: «Schwere Kerle rollen besser».
Schwinger oder Sagengestalt? Matthis Witter, genannt «der starke Thys», eine Figur aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. (Bild: PD)

Claudio Zanini

Die Schweiz und das Schwingen – ein unzertrennliches Paar seit Urzeiten. Es ist eine romantische Vorstellung, aber letztlich ein Mythos. Denn die Wurzeln des Schwingsports sind weit weniger archaisch, als sie von seinen Anhängern gesehen werden. Eine verbreitete Meinung ist, dass zwei mutmasslich schwingende Figuren in der Kathedrale von Lausanne das älteste Dokument sind. Die Darstellung stammt aus dem 13. Jahrhundert. In seinem Buch «Schwere Kerle rollen besser» führt Linus Schöpfer ausserdem eine Skizze des Künstlers Villard de Honnecourt ins Feld. Darauf sind zwei zusammen greifende Männer in kurzen Hosen zu sehen. Auch dieses Dokument stammt aus dem 13. Jahrhundert. Dass beide Bilder an Schwinger erinnern, bezweifelt Schöpfer nicht. Er kommt aber zur Frage: Kann man das schon «Schwingen» nennen?

Auch wenn wir diese Frage mit Ja beantworten könnten, hätte solches Urschwingen wenig mit den heutigen Wettkämpfen gemein. Das erste Schwingfest, das den Standards von heute ähnlich ist, fand 1805 statt: das erste Unspunnenfest in Interlaken. Schöpfer schreibt dazu in seinem Buch: «Es ist zugleich das erste gut dokumentierte Schwingfest und Vorbild aller kommenden Feste.»

Ein Entlebucher zerbricht von Hand ein Hufeisen

1808 folgte das zweite Unspunnenfest. Doch danach kühlte sich die Euphorie erstaunlicherweise wieder ab. Vergleichbares findet lange Zeit nicht mehr statt. Es folgt die «Sumpfzeit», wie sie von Schöpfer in Anlehnung an den Gründer des Eidgenössischen Schwingerverbands, Erwin Zschokke, genannt wird. Zschokke ist der Vater des modernen Schwingsports. Er schrieb 1924 in der «Geschichte des Eidgenössischen Schwingerverbands», in den 1830er-Jahren habe das Schwingen als «versumpft» gegolten. Es scheint eine interessante Phase gewesen zu sein. Schöpfer sagt: «Das 19. Jahrhundert ist besonders spannend, weil hier der Übergang ins moderne, heutige Schwingen stattfindet.» Ob schon Ranglisten existierten, lässt die dürftige Quellenlage offen. Es gab «Wirtshausschwingete» oder Wettkämpfe an Kilbi-Sonntagen. Wobei einige Ereignisse bloss überliefert sein dürften, weil sie in gröberen Keilereien ausarteten.

In der «Sumpfzeit» driften die Geschichten über Schwinger noch immer in die Sagenwelt ab. Gewissen Figuren werden übermenschliche Kräfte zugeschrieben. Schöpfer schreibt: «Von Matthis ‹der starke Thys› Witter wird erzählt, er habe eigenhändig aus einem vollen Weinfass getrunken. Des Weiteren habe ein Entlebucher von Hand ein Hufeisen zerbrochen, ein Schwyzer einen gefüllten Kessel mit den Zähnen gelupft.»

Während 1848 der Schweizer Bundesstaat gegründet wird, macht das Schwingen eine ziemlich chaotische Phase durch. Sauber dokumentiert sei das Schwingen eigentlich erst ab 1895, sagt Schöpfer. In jenem Jahr wird der Eidgenössische Schwingerverband gegründet. Auch diese Jahreszahl spricht gegen die These der urtypischen Tradition. Denn es gibt Fussballvereine, die älter sind als der Schwingerverband, darunter St. Gallen, die Grasshoppers oder der FC Basel.

1895 findet auch das allererste Eidgenössische Schwing- und Älplerfest in Biel statt. Schöpfer kommt zum Schluss: «Erst jetzt kann man allmählich von einer landesweiten Schwingtradition sprechen.»

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