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Literaturnobelpreis

Der Nobelpreis für Literatur geht an Annie Ernaux: «Vielleicht schreibe ich, weil wir uns nichts mehr zu sagen haben»

Die 82-jährige französische Autorin galt als grosse Favoritin. Sie hat die höchste Literaturauszeichnung gerade deshalb verdient, weil sie in ihren Büchern alles literarische Beiwerk meidet. 

Die französische Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux.
Bild: Leonardo Cendamo / Hulton Archive

Lakonisch, fast im Stil von Annie Ernaux, sagte der Sprecher der Schwedischen Akademie, man habe die diesjährige Gewinnerin des Literaturnobelpreises am Telefon noch nicht erreicht. Damit drückte er wohl unbeabsichtigt etwas Entscheidendes aus, was die meisten Werke dieser Autorin prägt: Sie schreibt über Milieus, die einander nicht erreichen.

Die Leute aus einfachsten Verhältnissen, zu denen Ernaux’ Eltern zählen, sind weitgehend ausgegrenzt. Literatenkreise und Bildungsmilieus ignorieren sich. Diese Mauer des gegenseitigen Verschweigens hat Annie Ernaux aufgebrochen. Sie bekomme den Preis «für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Beschränkungen der persönlichen Erinnerung aufdeckt», sagte der ständige Sekretär der Akademie, Mats Malm, bei der Preisbekanntgabe.

Alle Wettbüros hatten die 82-jährige als Favoritin gesehen. Gerade darum ist es angesichts vieler kapriziöser Entscheide der Schwedischen Akademie in früheren Jahren eine Überraschung, dass sie den Preis tatsächlich erhielt.

Um Autorin zu werden, muss sie ihr angestammtes Milieu verlassen

In Annie Ernaux’ Buch «Der Platz» von 1984 kommt diese unüberbrückbare, ja tragisch zu nennende Kluft der Milieus am deutlichsten zum Ausdruck: Um Autorin werden zu können, muss sie ihr angestammtes Milieu verlassen. Ihr Vater hat als Knecht auf einem Bauernhof begonnen, arbeitete dann in einer Fabrik, und sein einziger Aufstieg bestand darin, dass er irgendwann ein einfaches Restaurant mit einem kleinen Laden führen konnte.

Annie Ernaux aber hat im kulturbürgerlichen Milieu Fuss gefasst und sich darin als Autorin einen Namen gemacht, freilich um den Preis der Entfremdung von ihren Eltern. «Vielleicht schreibe ich, weil wir uns nichts mehr zu sagen haben», heisst es in «Der Platz».

Nach dem Tod des Vaters will sie endlich über ihre Herkunft schreiben, und da merkt sie erst, wie schwierig das ist. In einem Interview sagt sie, sie sei da an einen Wendepunkt gelangt. Sie habe mit den üblichen Mitteln der Literatur, vor allem mit der Fiktionalisierung brechen müssen, um das der Notwendigkeit unterworfene Leben ihres Vaters schildern zu können.

Nichts in ihren Werken soll erfunden sein

Nichts in ihren späteren Werken sollte erfunden sein. Auch der herkömmlichen Erinnerungspoesie erteilte sie nun eine Absage. Was heute als Storytelling in hohen Ehren steht und die Leserinnen und Leser ködern will, geschieht für Ernaux oft auf Kosten der Wahrhaftigkeit.

So füllt Annie Ernaux in «Der Platz» und anderen Hauptwerken die fehlenden oder verlorenen Erinnerungen nicht mit ausschmückenden Bildern und Episoden, sondern bekennt sich zu einem sachlich-nüchternen Stil, mit dem sie es trotzdem schafft, ihre Eltern oder sich selbst eindrucksvoll zu schildern.

Am Schluss von «Der Platz» erinnert sie sich, wie es vielleicht der grösste Stolz des Vaters oder gar sein Lebenszweck gewesen sei, «dass ich eines Tages der Welt angehöre, die auf ihn herabgeblickt hatte».

Annie Ernaux hievte mit Werken wie «Der Platz», «Eine Frau», «Die Scham», «Die Jahre», «Erinnerung eines Mädchens» und «Das Ereignis» das autobiografische Schreiben auf ein neues Niveau und verwischte jene starren Grenzen zwischen literarischem und wissenschaftlichem Schreiben. Nachfolgende französische Starautoren wie Didier Eribon («Rückkehr nach Reims») oder Édouard Louis («Anleitung ein anderer zu werden») haben sich ausdrücklich auf ihr Vorbild Annie Ernaux bezogen.

Sie bezeichnet sich als «Ethnologin ihrer selbst»

In ihrem Denken schwingt die Soziologie Pierre Bourdieus mit. Sie hat neben Literatur Sozialwissenschaften studiert und bezeichnet sich als «Ethnologin» ihrer selbst. Tatsächlich sind Annie Ernaux’ Bücher ethnologisch und soziologisch exakte Erzählungen, allerdings erzählt sie nicht soziologisch, sondern verständlich und künstlerisch hochstehend.

Die Autorin will immer eine Verbindung herstellen «zwischen meiner Klassenherkunft und dem, was mir passiert war». Der Klassenbegriff, auch wenn Ernaux ihn sparsam verwendet, ist in allen ihren autobiografischen Werken präsent. Jahrzehntelang galt er in bildungsbürgerlichen Schichten als überholt, als Relikt aus klassenkämpferischen Zeiten.

Annie Ernaux stösst uns immer wieder darauf, wie gegenwärtig das Klassendenken noch immer ist und wie wichtig der Begriff in Zeiten zunehmender Ungleichheit wieder wird.

«Die unvermeidliche Weitergabe der Armut»

Im letzten Jahr kam der Film «Das Ereignis» ins Kino. Das gleichnamige Buch von Annie Ernaux war 2000 erschienen. Es geht um eine frühe Abtreibung, als das in Frankreich noch illegal war. Als schwangere, mittellose Studentin holt die eigene Herkunft sie wieder ein, «und was da in mir heranwuchs, war gewissermassen das Scheitern meines sozialen Aufstiegs». Es droht «die unvermeidliche Weitergabe der Armut». Der Einzige, den das nicht zu interessieren schien, sei derjenige gewesen, von dem sie schwanger wurde.

Wie meist in ihren Büchern, schaut sich Annie Ernaux beim Schreiben auf die Finger und reflektiert, was sie tut. So heisst es in «Das Ereignis», die «Erschütterung», die sie empfunden habe, wenn sie die Bilder aus jener Zeit vor sich sehe und die Worte wieder höre, «hat nichts damit zu tun, wie ich damals empfand, es ist nur ein Schreibgefühl. Damit meine ich: ein Gefühl, das das Schreiben ermöglicht und seine Wahrhaftigkeit garantiert.» Von der Zeit unmittelbar nach dem Eingriff ist ihr nur eine Erinnerung geblieben. «Ich betrachte meine Beine in der schwarzen Strumpfhose im Sonnenlicht, es sind die Beine einer anderen Frau.»

Eine Prosa so sparsam wie ausdrucksstark. Selten hat eine Autorin den Literaturnobelpreis so sehr verdient wie Annie Ernaux.

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