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Best Of September

Die beste Musik des Monats kommt von Mundart-Sängerin Sina. Ihr neues Album «Ziitsammäri» hat das Potenziel zum Klassiker

Das Konzeptalbum der Walliser Sängerin ist ein Bravourstück. Ein Teamwork mit Schweizer Autorinnen wie Sibylle Berg, Simone Meier, sowie Autoren wie Bänz Friedli, Jürg Halter oder Franz Hohler.

Sina, die Grande Dame des Schweizer Pop.
Bild: Pat Wettstein / PAT WETTSTEIN

1. Sina: Ziitsammläri

«Ich bin keine Einzelschreiberin. Ich brauche die Interaktion», sagt Sina. Jetzt hat die Walliser Sängerin mit Wohnsitz im aargauischen Seetal den Gedanken des produktiven Teilens auf die Spitze getrieben. «Das Bedürfnis nach sozialen Kontakten hat mich dazu geführt, das Album mit vielen zu teilen. Es war meine Trotzreaktion auf den verordneten Vollstopp», sagt sie. Sina hat befreundete Autoren aus Literatur, Slampoetry und Kabarett um Geschichten zum Thema Zeit angefragt: Sibylle Berg, Simone Meier, Bettina Spoerri, Bänz Friedli, Wilfried Meichtry, Ralf Schlatter, Christoph Simon, Jürg Halter, Kunz, Adrian Tacchi und Franz Hohler haben alle geliefert. Entstanden ist ein bunter Strauss von Texten, besinnliche, traurige bis absurd-komische Geschichten zum Thema.

Auch die Musik ist Resultat von Teamwork. Zehn Tage hat Sinas musikalische Familie im Grandhotel Giessbach mit Blick auf den Thunersee verbracht. Einem Ort, der aus der Zeit gefallen scheint. Musiker und Gastsängerinnen und Sänger gaben sich hier die Klinke in die Hand: Kunz, Martina Linn, Dabu von Dabu Fantastic, Häni von den Halunken und das Vokalensemble Züriwest.

Entstanden ist ein musikalisches Schmuckstück. Ein Konzeptalbum von lyrischem Gehalt und einer Musikalität, die in der Schweiz ihresgleichen sucht. Lieder, Songs und Chansons zum Träumen, Schwelgen und Sinnieren. Melodien von zeitloser Schönheit, die sich anschmiegen und einfach nicht mehr fortwollen. «Ziitsammläri» hat das Potenzial zu einem Klassiker des Mundart-Pop.

Die heute 56-jährige Sina ist einen langen Weg gegangen. Von «Born To Be Wild» Anfang der 90er-Jahre zu «Born To Be Mild» wie es im Text von Adrian Tacchi in «T-Shirt» heisst. Von der Walliser Rocklady mit der Löwenmähne, die dem Sohn vom Pfarrer, den Kopf verdreht, bis zur Grande Dame des Schweizer Pop. Die Songs sind ruhiger geworden, chansonhaft reich. Elegant, stilvoll und edel. Die Töne feiner und leiser, die Stimmlage tiefer, das Timbre sinnlicher, die Phrasierung souveräner. Und vor allem: Das Paket Sina ist im Laufe der Jahre immer besser geworden. Keine andere hat sich so lange an der Spitze halten können. Jetzt scheint sie im Zenit zu stehen.

2. The Comet Is Coming: Hyper-Dimensional Expansion Beam

Seit drei Jahren prophezeit uns der britische Saxofonist Shabaka Hutchins mit seiner Science-Fiction-Jazzband die Ankunft des Kometen. Was wir auf dem zweiten Album hören, klingt aber nicht nach einem einzelnen Kometen. Wir hören gleich einem ganzen Kometenschwarm mit einem überdimensionalen Schweif. Ganz schön bedrohlich, ganz schön brenzlig, ganz schön faszinierend, dieser Soundtrack für die Apokalypse.

3. Buddy Guy: The Blues Don’t Lie

Der Mann ist unverwüstlich, ein Wunder. 86 Jahre alt ist die lebende Blueslegende Buddy Guy inzwischen, klingt und singt aber so explosiv wie eh und je. Produzent und Songwriter Tom Hambridge hat sechszehn knackige Songs auf ihn zugeschnitten und eine Reihe von Gästen wie Elvis Costello, Bobby Rush und Jason Isbell eingeladen. Besonders berührend ist aber «We Go Back“, ein Duett mit der auch schon 83-jährigen Sängerin Mavis Staples.

4. Young Gods Play Terry Riley in C

Irgendwann wird der Sog dieses Stücks hypnotisch. Die Wiederholungen schleichen sich durch die Gehirnwindungen und es hat ein bisschen was von einem Trip. Die Young Gods schaufeln sich durch «In C», diesem Klassiker der Minimal Music. 53 kurze Patterns, die alle um den Ton C kreisen hat Terry Riley 1964 geschrieben. Vieles überlässt er den Musikerinnen und Musikern. Wann die Patterns gewechselt werden, entscheidet kein Dirigent, sondern jedes Bandmitglied selbst. Sie spielen längst auch nicht immer dasselbe Motiv. Diese überlagern sich. Mit jedem Wechsel entsteht ein neues Klangbild. Auch zu der Wahl der Instrumente gibt es keine Vorgaben.

Von «In C» gibt es unzählige Versionen. Mal eingespielt von hundertköpfigen Grossformationen, mal von kleineren Truppen. Durch die wenigen Vorgaben klingen die Versionen grundverschieden. Auch die Länge variiert, von kurzen Aufnahmen bis zu mehrstündigen Stücken findet sich alles. 3470 Sekunden ist die Version der Young Gods lang – knapp 58 Minuten. Gespielt wird im Trio. Franz Treichler, Cesare Pizzi und Bernard Trontin. Schlagzeug, Gitarre, Sampler. Und los.

Die richtig krachenden, scharfen Young-Gods-Ausbrüche fräsen sich nur dann und wann durch den Song. Für die Band aus Freiburg ist es eher ein sanftes Stück Musik. Zeitweise ist fast alles weggedampft bis auf einen pulsierenden Ton, dann wieder gurgelt eine Sample-Wand. Die Variation von Tempo und Lautstärke geht hier bis ans Äusserste. Zwischen filigran und brachial liegen oft nur wenige Takte. Und doch ist immer alles im Fluss. Nichts wirkt gekünstelt. Hier sind drei Musiker am Werk, die derart aufeinander eingegroovt sind, dass die DNA der Band auch in den ausuferndsten Momenten immer spürbar bleibt.

Viel der Faszination am «In C» der Young Gods liegt aber in den weniger hochgeputschten Momenten. Wenn die Musik irgendwo im vermeintlich gemütlichen Trab liegt, sich aber immer wieder neue Dinge entwickeln. Mal sind es kleine Frickeleien, die sich nach und nach zu einem neuen Motiv schrauben, mal wechselt plötzlich die Klangfarbe und es wechselt von gemütlich zu bedrohlich. In ganz wenigen Momenten ist auch die Stimme Treichlers zu hören. Es klingt ein bisschen wie Yoga from Hell: «Ooooooooooom» und dazu flirrt die Sample-Maschine und gefühlt ganz weit hinten schwingt ein Schlagzeug-Becken langsam ins Nichts.

Treichler, Pizzi und Trontin lassen auch diesem Nichts Raum. Es kann auch still werden. In der heutigen Zeit, wo alle Lieder auf streamingkonforme 2 Minuten 30 Sekunden runtergebrettert sind, eigentlich etwas Unerhörtes. Ruhe braucht Zeit und Zeit haben wir nicht. Dabei ist auch das Nichts eben nicht Nichts. Bewusst gesetzte Ruhe macht jeden der nachfolgenden Schläge noch wuchtiger und selbst ein dunkles Summen hat nach einer Pause viel mehr Kraft.

Das ist eine der Spezialitäten der weltbekannten Schweizer Band, die zahlreiche berühmte Musikerinnen und Musiker beeinflusst hat: Ihr Sound hat immer Wucht. Er hat etwas Drängendes, klingt, als hätte jemand gerade eine Zündschnur angezündet und nun warten wir alle auf den Knall. Während ihre Stücke sonst oft tatsächlich knallen, bleibt es bei «In C» bei der Ahnung einer kommenden Explosion. Es wabert und zischt und zirpt und funkelt schon, aber es bleibt auch für Young-Gods-ungeübte Ohren im erträglichen Bereich. So richtig böse wird es nie.

Mut braucht dieses «In C» trotzdem. Und vor allem braucht es Zeit. Erst mit den gesamten 3470 Sekunden entfalten sich die ganze Schönheit und Virtuosität des Stücks. Das Eintauchen lohnt sich. Spätestens wenn der Sog seine volle Wirkung entfaltet, vergisst man die Zeit sowieso.

5. Anna Erhard: Campside

Mal schlurft der Sound von Anna Erhard entspannt-lässig, dann wieder hoppelt er fröhlich-zappelig. Die Musik der Schweizerin, die mittlerweile in Berlin lebt, duftet nach Sommer und Grossstadt. Viele Einflüsse und spannende Abzweigungen inklusive. Und alles wirkt unglaublich locker. Wie etwa der Song «Picnic At The Seaside» irgendwo zwischen Garage und Strand tänzelt oder «Horoscope» immer wieder einen neuen Dreh findet, ist unwiderstehlich.

6. Kings Elliot: Bored Of The Circus

Kings Elliot ist die neue Schweizer Pop-Queen. Die 28-jährige Schwyzerin (und seit sechs Jahren Wahl-Londonerin) tourte während der letzten Monate als Support-Act von Imagine Dragons und Macklemore durch Europa und die USA, spielte in ausverkauften Stadien. Auf ihrer soeben erschienenen EP breitet sie ihre Verletzlichkeit mit grosser Geste aus, wie es sonst nur Popikonen wie Lana Del Rey oder Billie Eilish gelingt, ohne dabei an Selbstmitleid zu erkitschen. Die Themen ihrer Songs sind existenziell, es geht um Trauer, Hoffnung – und ganz explizit – psychische Gesundheit.

7. Ozzy Osbourne: Patient Number 9

Ozzy Osbourne ist heute, mit 73 Jahren, nicht mehr gesund. Er kuriert sich von einer Wirbelsäulen-Operation, leidet an Parkinson - und musste auch ansonsten lernen, dass ein halbes Jahrhundert ausuferndes Rockstar-Leben möglicherweise irgendwann seinen Tribut fordert. «Patient Number 9» heisst sein neues Album. Es ist das zweite in nur etwas mehr als zwei Jahren. Insgesamt ist die Platte aber grösstenteils immer noch das, was die Fangemeinde erwarten dürfte vom selbsterklärten Fürsten der Finsternis. Seine immer etwas krächzende Stimme wirkt ungebrochen kraftvoll und die Musik klingt, wie sie eben seit Jahren klingt bei Ozzy: markant und melodisch, temporeich, krachend und bei aller Härte eingängig, ohne gefällig zu sein. Dazu, dass das Album keineswegs wirkt wie ein müdes Alterswerk, tragen auch die Gäste bei, die Osbourne eingeladen hat: von Gitarrist Jeck Beck über Ozzys «Black Sabbath»-Kollegen Tony Iommi bis hin zu Eric Clapton. Auch Duff McKagan von Guns N’ Roses hat mitgemacht - ebenso wie der im März gestorbene Foo-Fighters-Schlagzeuger Taylor Hawkins.

10. Boris Pilleri’s Jammin: Blues Never Sleeps

Boris Pilleri gehört zu den profiliertesten Gitarristen des Landes. Schon 1976 war er Mitgründer von Jammin‘ the Blues. Seither hat sich die Band um den Frontmann stilistisch zu Funk, Rock und Soul geöffnet, ist dem Blues aber treu geblieben. Als Jammin hat die Band jetzt ein groovendes Album mit schneidenden Bläsersätzen veröffentlicht, das mächtig in die Beine geht.

11. Marcus Mumford: Self-Titled

«Self-Titled» heisst das erste Solo-Album des Musikers Marcus Mumford. Mit besonders persönlichen Einblicken in eine dunkle Vergangenheit handeln die Lieder von Schmerz, Trauer und Hoffnung. Dieses Album ist nichts für schwache Nerven und das, obwohl Marcus Mumford (35, «Little Lion Man») als Frontmann der Band Mumford & Sons für dynamische Folk-Musik bekannt ist. Mit seinem ersten Solo-Album «Self-Titled» zeigt Mumford einen persönlichen Teil von sich. Es steht fest: Das erste Solo-Projekt des britischen Musikers ist keine leichte Unterhaltung. Es ist auch keine lockere «Nebenbei»-Musik. Es geht tief und es schmerzt. Dafür berühren die zehn Songs auf dem Album das Herz. In einem Wechselspiel aus Trauer und Hoffnung vermittelt die berühmte raue Stimme des Sängers eine emotionale Geschichte.

Das Album hat eine eigene Dramaturgie. Von Lied zu Lied wechselt das Gefühl zwischen Trauer und Hoffnung. Während «Cannibal» noch Tränen in die Augen schiessen lässt, heitert der zweite Track der Platte die Stimmung auf. Die Gitarren-Sounds von «Grace» lassen schon fast die gewohnte Mumford & Sons Uptempo-Dynamik aufkommen. Wer am Ende der Platte mit einem Happy End rechnet, irrt sich jedoch. Mit dem Song «How», den er gemeinsam mit Musikerin Brandi Carlile aufgenommen hat, wird erneut in den Emotionskasten gegriffen. Das Stück sorgt für zarte Gänsehaut mit tiefgründigen Texten in denen es um die Hoffnung geht, irgendwann einmal vergeben zu können und den Zweifel daran, dass das jemals möglich sein wird.

Mumford offenbart mit seinem Solo-Projekt eine persönliche Seite. Seine Texte handeln vom Wunsch, in eine unbeschwerte Zeit zurück zu kehren und Ereignisse vergessen zu können, vom Verarbeiten einer schweren Vergangenheit und dem Losreissen von Scham sowie der Hoffnung auf eine bessere Zeit und eine wiederkehrende Leichtigkeit.

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