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Nidwalden

Wiener Festival: Die Woche, in der Stans auf dem Kopf stand

Ein Hund namens Jesus, bunte Bilder und ein entlarvendes Theaterstück: Künstler aus der österreichischen Avantgarde sorgten vor 50 Jahren im Nidwaldner Hauptort für einen Skandal. Das einwöchige «Wiener Festival» hat bis heute Spuren hinterlassen.
Die First Vienna Working Group löste mit ihrer Aufführung von «Hunger: Biafra» 1969 im Chäslager Stans einen Tumult aus. (Bilder: PD)
Die First Vienna Working Group bei der Aufführung von «Hunger: Biafra». (Filmausschnitt: PD)
Josef Maria Odermatt, Künstler und Präsident des Chäslagers, nimmt 1969 vor der Kamera zum Wiener Festival Stellung. (Filmausschnitt: PD)
Brief von Luzern an den damaligen Stanser Gemeindepräsidenten Bruno Leuthold. (Bild: PD)

Simon Mathis

Simon Mathis

Simon Mathis

Simon Mathis

Simon Mathis

13. April 1969, Sonntagmorgen in Stans. Nach dem Hauptgottesdienst trafen sich die schwarz gekleideten Männer auf dem Dorfplatz. Plötzlich tauchten junge Leute von auswärts auf, farbig angezogen, barfuss, obwohl es kalt war. Sie suchten ihren Hund, der Jesus hiess. Und riefen in die erstaunte Menge:

«Huere Jesus, chum zrugg!»

Von diesem Ereignis zu Beginn des «Wiener Festivals» berichtete die Stanser Kunsthistorikerin Regula Odermatt unlängst im Chäslager Stans.

Dieser Skandal ist ein treffendes Bild für das, was sich in der Woche vom 12. bis 20. April 1969 in Stans abspielte. Hier prallten zwei Welten, zwei Kulturen aufeinander: Die wilden 68er erreichten Nidwalden. Darauf war das eher beschauliche Stanser Kulturleben, vor allem geprägt von Vereinen, nicht vorbereitet.

Die Jungen wollten frischen Wind bringen

Es waren zwar österreichische Künstler, die für Aufsehen sorgten. Doch der Impuls für die Veranstaltung ging von den Stanser Rovern aus: Pfädeler im Alter zwischen 16 und 21 Jahren eröffneten 1967 das Kulturhaus Chäslager, damals noch an der Ennetmooserstrasse. Das Haus bot ein reiches Programm: Jazz, Klassik, Theater, Film.

Einer der Chäslager-Gründer war besonders erpicht darauf, frischen Wind in die Stanser Kulturszene zu bringen: der charismatische Beat Odermatt, Pfadiname «Morell». Er war der jüngste Bruder des Bildhauers Josef Maria Odermatt (1934-2011). Und er hatte es sich in den Kopf gesetzt, Vertreter der Wiener Avantgarde nach Stans zu bringen. Das gelang: Zusammen mit dem späteren Regierungsrat Viktor Furrer reiste er nach Wien und engagierte Schriftsteller, Maler, Filmemacher und ein Aktionstheater. Beworben wurde das Wiener Festival mit folgendem Plakat:

Jeder Tag ein Gang ins Rathaus

Präsident des Chäslagers war damals Josef Maria Odermatt, der sich als Eisenplastiker bereits einen Namen gemacht hatte. Er hat gegen innen und aussen die Verantwortung für das Festival übernommen. Die Konsequenz: Während des Wiener Festivals wurde er praktisch jeden Tag ins Rathaus zitiert, wo er sich vor der Nidwaldner Regierung erklären musste. Das Wiener Festival hat von Anfang an provoziert – schon mit den psychedelischen Bildern, die aufgehängt waren.

Ein stilles Kopfschütteln des Stanser Künstlers Paul Stöckli bewirkte, dass diese Kunstrichtung in Stans auf wenig Verständnis stiess. Wilde Gerüchte – manche masslos übertrieben – kursierten. Junge Stanser Frauen würden nackt auf der Bühne stehen, hiess es etwa. Oder: Im Chäslager werde Pornografie ausgestellt. Josef Maria Odermatt musste zusammen mit dem Polizeikommandanten im Auftrag der Regierung die anstössigen Bilder suchen. Sie fanden keine.

Ein zweiter sonntäglicher Schock

Die grösste Provokation allerdings war das Aktionstheater «Hunger: Biafra», das am letzten Tag des Festivals gezeigt wurde. Selbst von der Kanzel in der Kirche wurde das Theater als Wohltätigkeitsanlass für die Hungernden in Afrika angepriesen. Der Eintritt betrug 4 Franken.

Vom skandalösen Abend sind Filmaufnahmen erhalten geblieben. Darin sieht man, wie das Publikum zunächst vor einem geschlossenen Vorhang sass – bis jemand denselben zur Seite zog und den Blick auf die Wiener Künstler enthüllte. Diese sassen an einem Tisch und verputzten Speisen aus dem Stanserhof. Irgendwann erhob sich einer der Essenden und rechnete vor, wie viel für Afrika übrig bleibe, nachdem die Rechnung für das Festmahl beglichen sei: nämlich 3.10 Franken. Damit hielten die Künstler den Spendenden einen Spiegel vor: Das Kleingeld, das nach dem grossen Fressen übrig bleibt, geht nach Afrika.

Unter den Zuschauern brach ein Tumult aus. Einige riefen nach der Polizei. Kaplan Schriber erhob sich und forderte die Anwesenden auf, gemeinsam mit ihm das Eintrittsgeld zurückzuverlangen. Einer der Chäslager-Mitarbeiter befürchtete, das Publikum werde die Kasse stürmen. Er schnappte sich das Geld und versteckte sich damit im Keller, bis die Aufregung vorbei war. Aus dem jungen Mann sollte später ein gefeierter Regisseur werden: Beat Wyrsch ist sein Name. Heute sagt Beat Wyrsch:

«Das Wiener Festival war für mich wie ein Befreiungsschlag.»

Im Nachgang der Ereignisse wandte er sich von Stans ab und fand in Deutschland Erfolg – als Gründer des experimentellen Musiktheaters «Pocket Opera Company». Die jungen Verantwortlichen des Chäslagers, die in Stans blieben, vergassen den Aufschrei von 1969 nicht so schnell. Josef Maria Odermatt etwa wurde ein weiteres Mal ins Rathaus zitiert – und vom Regierungsrat aufgefordert, als Präsident des Chäslagers zurückzutreten. Er weigerte sich. Schliesslich trat er trotzdem zurück; weil ihn der Vorstand des Chäslagers dazu aufforderte. Drei weitere Personen wurden aus dem Verein Chäslager ausgeschlossen: Beat Wyrsch und Odermatts Brüder «Morell» und Otto.

Nicht nur in Stans war das Publikum baff

«Das Wiener Festival war nicht nur für die bürgerliche Regierung ein Schock», sagt der Stanser Historiker Peter Steiner.

«Unter den Jungen löste diese Aprilwoche ein eigentliches Trauma aus. Die nachrückende Generation, die etwas wagen und bewegen wollte, wurde von ihren Eltern und von der Regierung scharf zurückgepfiffen.»

Laut Steiner dauerten die Nachwehen dieses Ereignisses über zehn Jahre an. Erst in den 1980er-Jahren habe sich wieder so etwas wie eine Aufbruchstimmung entwickelt, etwa mit der Gründung des Demokratischen Nidwalden. Der in Stans aufgewachsene Künstler Hans-Peter Litscher sagt:

«Das Wiener Festival lebte von der Provokation. Und die Stanser haben sich natürlich grossartig provozieren lassen.»

Allerdings sei Stans kein Einzelfall gewesen: Der Wiener Aktionismus stiess auch in anderen, grösseren Städten auf Unverständnis. Nicht zuletzt auch in Luzern, wo sich jemand dazu bemüssigt fühlte, nach dem Festival einen Schimpfbrief an den damaligen Gemeindepräsidenten Bruno Leuthold zu schicken:

Hinweis: Im Dokumentarfilm «Nach dem Sturm» von Beat Bieri und Jörg Huwyler sind Szenen aus dem Wiener Festival zu sehen. Er wird am 26. April um 20 Uhr im Chäslager gezeigt.

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