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Uri

«Normal ist es, verschieden zu sein»  — Stiftung Behindertenbetriebe Uri feiert Jubiläum

Geschäftsführer Thomas Kenel und Stiftungsratspräsident Hermann Näf erklären, wie sich das Leben für Menschen mit Behinderung verändert hat.
Hermann Näf (links) und Thomas Kenel vor dem grossen Jubiläumssymbol, das in der SBU-Werkstatt produziert wird. (Bild: Valentin Luthiger)

Interview: Stefan Fryberg*

Heuer jährt sich die Eröffnung der Stiftung Behindertenbetriebe Uri (SBU) zum 50. Mal. In einem halben Jahrhundert hat sich die damalige «Eingliederungs- und Arbeitswerkstätte Uri» zu einem der grössten Arbeitgeber im Kanton und zu einem modernen Zuhause für Menschen mit Beeinträchtigung entwickelt. Geschäftsführer Thomas Kenel und Stiftungsratspräsident Hermann Näf erinnern an die Anfänge, geben Einblicke in die aktuellen Herausforderungen und wollen motivieren, sich künftig – gemäss dem Jubiläums-Motto – noch stärker «zämä vorwärts z bewegä».

Thomas Kenel, Sie sind seit Sommer 2018 Geschäftsführer der SBU. Welches Bild haben Sie in dieser Zeit von der Institution gewonnen?Thomas Kenel: Ich durfte von meinem Vorgänger Alex Christen einen sehr gut organisierten Betrieb mit einer top Infrastruktur übernehmen. Für die Betreuung und Begleitung können wir auf äusserst engagierte Angestellte zählen. Das ermöglicht es uns, ein Zuhause und ein Arbeitgeber zu sein, bei dem sich die Menschen mit Beeinträchtigung wohl fühlen und entfalten können. Was heisst das für die Zukunft?Kenel: Damit dies auch künftig so bleibt, dürfen wir nicht stehen bleiben. Nach dem grossen Wachstum der SBU in den letzten 20 Jahren wird es für uns in Zukunft stärker um die interne Entwicklung und Professionalisierung gehen. Wichtig ist zudem, dass wir genügend interessante Arbeitsplätze für Menschen mit Beeinträchtigung schaffen können. Denn sie wollen sich einbringen und ihren Beitrag leisten. Das ist für sie von immenser Bedeutung. Wie denken Sie, wird die SBU von der Bevölkerung wahrgenommen?Kenel: Wir bemerken generell ein sehr grosses Interesse an der SBU. Veränderungen oder Entwicklungen zum Beispiel werden in der Bevölkerung und in der Politik breit diskutiert. Ich empfinde dies als Stärke, Anerkennung und Motivation. Es zeigt uns, dass die Anliegen unserer Institution ernst genommen und unterstützt werden. Gut verankert sind wir darüber hinaus auch im Wirtschaftsumfeld. Man nimmt die SBU als zuverlässigen Partner in den unterschiedlichsten Bereichen wahr. Hermann Näf, Sie kennen die SBU bereits etwas länger. Seit bald acht Jahren engagieren Sie sich im Stiftungsrat, aktuell als Präsident. Wenn Sie sich zurück erinnern, wie hat sich die SBU gewandelt?Hermann Näf: Die rasante Entwicklung seit der Gründung zeigt sich an der Zahl der Mitarbeitenden und Angestellten eindrücklich: 1970 startete die «Eingliederungs- und Arbeitswerkstätte Uri» mit zwei Angestellten und 18 Menschen mit Beeinträchtigung. Heute unterstützen 180 Angestellte rund 180 Mitarbeitende mit Beeinträchtigung in der Werkstatt, im Tagesatelier Wärchläübä sowie im Bereich Wohnen. Hat auch die Infrastruktur mit dem Wachstum Schritt gehalten?Näf: Ja genau, das war sehr wichtig. Zuletzt konnte 2014 das neu erbaute Haus Bristen bezogen werden. Teilbereiche darin vermietet die SBU an die Spitex und an die psychiatrische Tagesklinik von Triaplus. Damit ist in Schattdorf rund um die SBU und das Alters- und Pflegeheim Rüttigarten ein Cluster im Gesundheits- und Sozialbereich entstanden. 2016 konnten ausserdem die erweiterte und sanierte Werkstatt eingeweiht werden. Und aus den Spendengeldern realisierte die SBU ein Tiergehege, das mittlerweile zu einem beliebten Begegnungsort geworden ist. Die grosszügigen Spenden, die so etwas möglich machen, sind ein weiteres Zeichen der Wertschätzung. Die Spender sind offensichtlich überzeugt, dass die SBU für Menschen mit Beeinträchtigung ein sinnvolles Angebot beim Arbeiten und Wohnen bietet. Früher sprach man von der «Eingliederung» von Menschen mit Behinderung. Heute wird das Schlagwort «Inklusion» bedient. Was versteht die SBU darunter?Näf: Der Begriff «Eingliederung» beruht auf dem Verständnis einer Zweiklassengesellschaft: Da gibt es Menschen, die wegen ihren individuellen Eigenschaften ausgesondert sind. Sie sollen in die «normale» Gemeinschaft eingegliedert werden. Anders sieht es bei einem inklusiven Verständnis aus. Hier wird jeder Mensch als Individuum mit seinen besonderen Fähigkeiten oder auch mit seinen Einschränkungen akzeptiert und als Erweiterung der Gesellschaft wahrgenommen. Im Idealfall wird niemand ausgegrenzt. Das ist aber nur möglich, wenn die Partizipation im Alltag – also in der Schule, bei der Arbeit, in der Freizeit – für alle Menschen uneingeschränkt möglich ist. Kenel: Das lateinische Wort «includere» heisst «einbeziehen, einschliessen». Für die SBU bedeutet Inklusion, dass wir uns in der Teilhabe der Menschen mit Beeinträchtigung noch stärker engagieren. In der Betreuung werden die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Menschen mit Beeinträchtigung schon vorbildlich mit echter Mitsprache gelebt. Wir entscheiden nicht für sie, sondern mit ihnen und ermöglichen grösstmögliche Selbstständigkeit. Mit der Spendenkommission, in der vier Menschen mit Beeinträchtigung gemeinsam mit mir entscheiden, wie die Spenden eingesetzt werden sollen, oder diversen Organisationskomitees für unsere internen Anlässe machen wir weitere Schritte auf dem inklusiven Weg. An anderen Stellen gibt es auch bei der SBU noch Luft nach oben.Wo liegen die Hürden, die abgebaut werden müssen, damit Inklusion in der Gesellschaft gelingen kann? Näf: Es geht um eine Veränderung der Grundhaltung, die Vielfalt als Norm und als Bereicherung versteht. Dabei gilt es als normal, verschieden zu sein. Jeder Mensch soll so akzeptiert werden, wie er ist. Wir können alle voneinander profitieren. Eine solche Haltung kann nicht verordnet werden. Sie muss erarbeitet werden.Kenel: Als SBU können wir in diesem Prozess Hürden abbauen. Wir bieten in allen Lebensbereichen immer wieder Gelegenheiten, dass sich Menschen mit und ohne Beeinträchtigung begegnen können. Was heisst das konkret?Kenel: Wir sind auch im Alltag vor Ort in Schattdorf offen für diesen wichtigen Austausch: Ein- statt Ausschliessen passiert hier ganz unkompliziert in unserem öffentlichen Restaurant Windrad oder auf dem Spielplatz mit Tiergehege. Wir freuen uns über jeden Besuch. Im Jubiläumsjahr haben wir uns zudem vorgenommen, den Kontakt mit den Urnerinnen und Urnern noch stärker zu suchen. So besuchen wir etwa politische Gremien und einige unserer Kunden. Wir sind im Theaterverein Eigäwächs aktiv, geniessen die Schattdorfer Fasnacht mit der SBU-Katzenmusik und Vorstellungen im Zirkus Knie, feiern ein Sommerfest und laden alle herzlich zum Tag der offenen Tür am 31. Oktober 2020 ein. Bei diesen Gelegenheiten wollen wir persönlich Danke sagen für das grosse Engagement der Bevölkerung, Politik und Wirtschaft. Denn: Nur gemeinsam können wir die Rahmenbedingungen für die Menschen mit Beeinträchtigung verbessern.Was wünschen Sie der SBU für die nächsten 50 Jahre? Kenel: Menschen mit Beeinträchtigung benötigen in den verschiedenen Lebensbereichen und Lebensphasen ganz individuelle Unterstützung. Wir wünschen uns, dass wir mit unserem Engagement die Teilhabe in der Gesellschaft für alle und in allen Aspekten erweitern können.Näf: Im Sinne einer Vision wünsche ich mir eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse: Möglichst alle Menschen mit Beeinträchtigung sollen im normalen Arbeitsmarkt eine ihren Fähigkeiten entsprechende Stelle finden und mit der nötigen Unterstützung selbstbestimmt ihre Freizeit verbringen können. In der Idealvorstellung bräuchte es die SBU in der heutigen Form nicht mehr...

* Der Autor dieses Interviews ist ehemaliger Urner Gesundheits-, Sozial und Umweltdirektor. Er hat sich intensiv mit der Geschichte der Stiftung Behindertenbetriebe Uri auseinandergesetzt.

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